Aus FamRZ 1999, Heft 24, S. 1645-1646 (auszugsweise):
Nr. 1095 EKMR - EMRK Art. 6 I, Art. 8 I
(1. Kammer, Bericht v. 03.12.1997 - Beschwerde Nr. 23671/94 Gebhard Fidler/Österreich)
1. Art. 6 I EMRK begründet ein Recht auf effektivem Zugang zu einem Gericht, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen entscheidet.
2. Das Recht auf Zugang zu einem Gericht kann Beschränkungen unterworfen werden, die jedoch nicht seinen Wesensgehalt antasten dürfen. Ein tatsächliches Hindernis kann die Konvention ebenso verletzen wie eine gesetzliche Beschränkung.
3. Art. 6 I EMRK ist verletzt, wenn das Gericht einen in der zweiten Novemberhälfte gestellten Antrag auf Regelung des Weihnachtsferienumgangs des Nichtsorgeberechtigten mit seinen Kindern nicht so beschleunigt bearbeitet und die erforderlichen Tatsachen feststellt, daß es zeitgerecht über ihn entscheiden kann.
4. Im Falle der Feststellung einer Verletzung des Rechts auf effektiven Zugang zu einem Gericht gemäß Art. 6 I EMRK ist eine gesonderte Prüfung nach Art. 8 I EMRK nicht erforderlich.
Der Sachverhalt scheint insbesondere wegen des (österreichischen) Instanzenwegs etwas verworren. Wir (Vfk e.V) fassen deshalb zusammen:
Im Rahmen eines seit längeren laufenden Verfahren zum Umgangsrecht begehrte der Bf. (Vater) in einem am 20.11.92 bei Gericht eingegangem Antrag die Gewährung eines Umgangs mit seinen Kindern am 24.12.92 von vormittags bis 16 Uhr. Nach Darstellung des Bf. teilte ihm Richter F. am 27.11.92 mit, dass er zuständig sei und zeitgerecht eine Entscheidung treffen werde. Am 7.12.1992 wurde er nicht von Richter F, sondern vom Richter T. telefonisch zu einer am 17.12.92 Sitzung geladen an der auch die Kindesmutter teilnehmen sollte. Der Bf. erschien verspätet, nachdem die K. M. bereits gegangen war. Diese hatte vorgebracht, dass die Kinder sich weigerten, den Bf. zu besuchen. [Anmerkung zu diesen uns sattsam bekannten Argument: Die Kinder waren zu diesem Zeitpunkt 4, bzw. 6 Jahre alt. Auch deutsche Gerichte gehen davon aus, dass ein erziehungsfähiger, sorgeberechtigter Elternteil zumindest Kinder bis zum Alter von 10 Jahren von der Notwendigkeit eines Umgangs zu überzeugen in der Lage sein müsse, und verpflichtet sei darauf hinzuwirken. Bzgl. des Besuchs des Kindergartens bzw. der Schule, beispielsweise, ist das ja praktisch immer auch der Fall.] Richter T. erklärte dann, dass er in Hinblick auf die verbliebene Zeit und den Umstand, dass er keinen persönlichen Eindruck von den tatsächlichen Verhältnissen habe, keine Entscheidung mehr treffen könne.
Mit Schreiben vom 28.12.92 beschwerte sich der Bf. darüber, dass ihm Richter F. im November eine zeitgerechte Entscheidung versprochen habe. Das wurde am 7.1.93 zurückgewiesen, mit dem Argumenten, dass am 17.12.92 keine Einigung zwischen den Eltern erzielt werden konnte, deshalb dann die Akten erneut an eine andere Instanz geschickt wurden von der sie erst am 30.12.92 zurückgegeben wurden. [Anm.: Das erscheint uns ja angesichts der Feiertage, aber auch nach sonstiger hiesiger Erfahrung, geradezu rasant, wenn auch leider nicht zielführend.] In Hinblick auf den Zeitablauf sei es unmöglich geworden, den beantragten Umgang mit den Kindern zu gewähren. Diese Entscheidung wurde durch Richter F. , nicht Richter T. gefällt.
Mit dem Argument, dass es an einem Rechtsschutzbedürfnis für eine Sachentscheidung fehle, wurde die Beschwerde auch von den höheren Instanzen zurückgewiesen.
Die Kommission erklärte die. Beschwerde mit Entscheidung v.4.9.1996 im Hinblick auf die Beschwerdepunkte für zulässig, dass die Gerichte dem Bf. eine Entscheidung über den Antrag auf Regelung des Weihnachtsferienumganges versagt (Art. 6 I EMRK) und sein Recht auf Achtung seines Familienlebens (Art. 8 I EMRK) verletzt hätten.
Aus den Gründen:
32. Art. 6 I EMRK lautet, soweit relevant, wie folgt:
,,Jedermann hat Anspruch darauf, dass seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessener Frist gehört wird, und zwar von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht, das über Zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen ... zu entscheiden hat."
.......
35. Die Kommission erinnert daran, daß Art. 6 I EMRK jedem das Recht garantiert, seine zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen vor einem Gericht geltend zu machen. Auf diese Weise verwirklicht der Artikel das "Recht auf ein Gericht", von dem das Recht auf Zugang, nämlich das Recht, ein Verfahren vor den Gerichten in Zivilsachen einzuleiten, einen Aspekt darstellt (EuGMR, Golder/Vereinigtes Königreich, Urteil v. 21. 2. 1975, Ser. A Nr. 8, S. 18, Ziff. 36). Weiter erinnert die Kommission daran, daß Art. 6 EMRK Kl. ein effektives Recht auf Zugang zu den Gerichten im Hinblick, auf die Entscheidung über ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen garantiert (EuGMR, Airey/Irland, Urteil v. 9. 10. 1979, Ser. A Nr. 32, S. 14-15, Ziff. 26).
36. Das Recht auf Zugang zu einem Gericht ist nicht absolut, sondern kann Gegenstand von Beschränkungen sein. Dennoch dürfen die Beschränkungen den Zugang des Betroffenen nicht in einer solchen Weise oder in einem solchen Ausmaß einschränken oder vermindern, daß der Wesensgehalt dieses Rechtes angetastet wird (EuGMR, Golder/Vereinigtes Königreich, Urteil, a.a.O., S. 18-19, Ziff. 38; Ashingdane/Vereinigtes Königreich, Urteil v. 28. 5. 1985, Ser. A Nr. 93, S. 24, Ziff. 57).
37. Die Kommission stellt fest, daß es keine gesetzlichen Beschränkungen gab, die den Bf. daran hinderten, seinen Antrag bei den Zivilgerichten zu stellen. jedoch kann ein tatsächliches Hindernis ebenso gegen die Konvention verstoßen wie eine gesetzliche Beschränkung EuGMR, Golder/Vereinigtes Königreich, Urteil, a.a.O., S. 13, Ziff. 26; Airey/Irland, Urteil, a.a.O., S. 14, Ziff. 25).
39. Die Kommission stellt fest, daß das BezirksG es versäumt hat, den Antrag des Bf. auf Regelung des Umgangs mit seinen Kindern zu Weihnachten 1992 beschleunigt zu bearbeiten und die Tatsachen festzustellen, die es in die Lage versetzt hätten, in der Sache zu entscheiden. Insgesamt gesehen hatte der Bf. Zugang zum BezirksG nur, um zwei Wochen nach Weihnachten zu erfahren, daß es infolge Zeitablaufs unmöglich geworden sei, seinem Antrag stattzugeben.
40. Unter den Umständen des vorliegenden Falles ist die Kommission der Auffassung, daß der Bf. kein effektives Recht auf Zugang zu den Gerichten hatte, wie es von Art. 6 I EMRK garantiert wird.
41. Die Kommission kommt einstimmig zu dem Ergebnis, daß im vorliegenden Fall eine Verletzung von Art. 6 I EMRK vorgelegen hat.
Anmerkungen (VfK e. V.):
Man beachte, dass seit dem einfachen Antrag auf Gewährung eines auf wenige Stunden beschränkten Umgangs zu Weihnachten, bis zu dieser Entscheidung über 5 Jahre vergangen sind und eine Vielzahl von Instanzen durchlaufen wurde. Obwohl damit den Kindern und dem Vater nicht zu ihrem Recht verholfen wurde, sind die klaren Feststellungen der Europäischen Kommission für Menschenrechte doch von grundsätzlicher Bedeutung, da es sich leider nicht um einen Einzelfall handelt, sondern sogar weit krassere Fälle bekannt sind. Immerhin gab es hier eine rege Aktivität verschiedener Instanzen, und das sogar zur Weihnachtszeit, wenn auch leider nicht zielführend. Wir erinnern beispielsweise an einen Fall, in dem auch nach sieben (7!!) Jahren keinerlei Entscheidung zum Umgang getroffen wurde, 1 BvR 711/96 [ FamRZ 1997, 871-873; NJW 1997, 2811-2812], VfK Info 10/97. Es gibt aber auch genug andere Fälle, die solange verzögert wurden, bis argumentiert werden konnte, dass kein Rechtschutzbedürfnis mehr bestehe, weil die Kinder ohnehin bald volljährig seien, oder jedenfalls ein Alter erreicht hätten in dem ihrem entgegenstehenden Willen (oft nach vielen Jahren der durch Umgangsverweigerung verursachten Entfremdung!!) Rechnung getragen werden müsse. Sollte das noch nicht eingetreten sein, genügt auch das berühmt-berüchtigte Kontinuitätprinzip zur Belassung beim status quo, obwohl eine erzwungene Kontinuität nicht beachtlich sein sollte.
Wir haben über das leidige Thema der nicht kindgerechten, langen Verfahrensdauer schon wiederholt berichtet, zuletzt am 12.4.2000: Terminierung von Verfahren zum Kindschaftsrecht. OLG Hamm -ZPO §§ 42, 620; 13. FamS, Beschluß vom 29.12.1998-13Sbd 14/98.
Erkannt und sehr drastisch beschrieben hat das Problem faktischer Rechtsverweigerung aber schon der österreichisch-böhmische Schriftsteller und Beamte Franz Kafka in der Erzählung ,,Vor dem Gesetz", die hier, auch wegen des verschlungenen Instanzenwegs, besonders passend erscheint (vgl. auch seinen Roman ,,Der Prozess").